Ich glaube, wie bei den meisten Forum-Mitgliedern und -Lesern, liegt auch mein Hauptinteresse auf amerikanischen und englischen Krimiserien. Trotzdem empfinde ich den
Tatort als eine Art Gesamtkunstwerk. Egal, ob man die jeweiligen Ermittler mag oder wie man die einzelnen Folgen findet, ist diese Endlos-Reihe wie ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft, wie sie sich im Laufe der Jahrzehnte verändert hat.
Ende der 60er Jahre gab es die "sexuelle Revolution", freie Liebe, Studentenkrawalle, Flowerpower und trotzdem zeigen die Tatorte der 70er Jahre, dass die gesellschaftliche Realität weiterhin sehr spießig war. Es gab zwar mehr Sex im Tatort-Krimi, aber zwischen Alpenveilchen und vor grauenhaft gemusterten Tapeten.
Die Kommissare waren sehr bieder, meistens alt und erfahren und alles hatte seine Ordnung.
Dass es Anfang der 80er mit
Götz George als
Schimanski einen Kommissar ohne Krawatte gab, zeigt, dass sich gesellschaftlich etwas verändert hatte. Die einen waren entsetzt, aber viele andere begeistert. Auch
Manfred Krug und
Charles Brauer als
Stoever und "Brocki" hatten viel coolere Sprüche drauf als die Kommissare der 70er.
1978 gab es mit
Nicole Heesters als
Marianne Buchmüller die erste Kommissarin und wahrscheinlich fragten sich einige Fernsehzuschauer ganz verwundert: Eine Frau, die die Arbeit eines Mannes macht? Geht das?
Ja, das geht und spätestens ab
Ulrike Folkerts als
Lena Odenthal waren die Ermittlerinnen mindestens genauso tough wie ihre männlichen Kollegen. Aus heutiger Sicht ist das wahrscheinlich schwer nachvollziehbar, aber es war ein weiter Fernseh-Weg von
Frau Hoppenstedt oder
Ekel Alfreds "dusseliger Kuh" zu
Odenthal,
Lindholm und den anderen selbstbewußten Ermittlerinnen.
Auch die Handlungen durchliefen einen ständigen Entwicklungsprozeß. Ursprünglich waren es "Fernsehspiele mit kriminalistischen Themen", später wurden die Folgen deutlich dynamischer und spannender. Auch gab es immer wieder Episoden, die die Volksseele erzürnten. So geriet nach dem 1975er Tatort
Tod im U-Bahnschacht über illegal beschäftigte ausländische Arbeiter
Franz-Josef Strauß ins Toben.
Auch wenn der Mörder einer bestimmten Berufsgruppe angehörte, kam es zuweilen zu Beschwerden wegen Diffamierung eines gesamten Berufsstandes. Inzwischen scheint es beim Tatort fast Pflicht geworden zu sein, gesellschaftlich oder politisch brisante Themen darzustellen. Mord alleine genügt nicht ...
Persönlich gefallen mir die Produktionen der 90er und 00er Jahre am besten, die z.B. in ihrer Anfangszeit dynamische Ermittler-Duos wie
Batic / Leitmayr oder
Ballauf / Schenk - inzwischen im deutlich behäbigeren Rentenalter - hervorgebracht haben.
In den letzten 10-15 Jahren haben mir meist nur noch ca. 5 Folgen pro Jahr gut gefallen, die in vielen Kritiken aber nicht gut wegkamen. Die meisten neueren Folgen zeigen irgendwelche Psycho-Dramen oder besonders düstere Monstertaten völlig abgedrehter Typen und Ermittler, die überwiegend selbst einen Knall haben oder mit ihrem Leben nicht klarkommen. Ich fürchte, dass der Tatort auch hier wieder die Stimmung in unserer Gesellschaft widerspiegelt. Das soll nicht heißen, dass die Gesellschaft so ist wie im Tatort, aber sie scheint solche Filme zu mögen. Ansonsten wären die Zuschauer-Quoten nicht so hoch.
Außerdem finde ich es durch den Tatort faszinierend zu sehen, wie wir alle gemeinsam altern. 1975 spielte
Susanne Uhlen mit 20 Jahren in
Als gestohlen gemeldet, inzwischen ist sie etwas älter.
Und auch
Klaus J. Behrendt sieht in den neuen Folgen nicht mehr ganz so aus wie in seiner Gastrolle in der 1990er Folge
Schimanskis Waffe .
Als die erste Tatort-Folge lief, war ich zehn Jahre alt und zu jeder Episode habe ich mindestens einen Programmhinweis gesammelt. Manchmal frage ich mich, ob die Serie auch noch weiterläuft, wenn ich zusammen mit meinen ganzen Krimihelden in den Ewigen Jagdgründen vereint bin, und wer dann für mich die zukünftigen Tatort-Folgen weitersammelt ...