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Autor Thema: Rettet den Tiger (Save the Tiger) (USA, 1973)  (Gelesen 446 mal) Durchschnittliche Bewertung: 5
filmfan
Azubi in der Police Academy
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« am: 18. Juni 2020, 21:54:37 »



Harry Stoner wird vom Konflikt zwischen einem vergangenen und gegenwärtigen Leben zerrissen. Er glaubt, in seinem Leben gäbe es nichts mehr von Bedeutung, mit Ausnahme des Überlebens, und dieses Gefühl treibt ihn jenseits jeglicher Moral. Er manipuliert die Bilanzen, beschafft Frauen für die Kunden... und legt sogar Feuer in der eigenen Textilfabrik. Er sehnt sich aber nach den Tagen, in denen es nicht nur um Profit und Helden ging und alles viel einfacher schien - eben zufriedenstellend und lebenswert. Aber Harry hat Angst, aus der Leere seines scheinbar erfolgreichen Lebens auszubrechen...

Darsteller: Jack Lemmon, Jack Gilford, Laurie Heineman
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« Antworten #1 am: 18. Juni 2020, 21:56:50 »

"Scheiße" ist das erste Wort, das Jack Lemmon in diesem Film von sich gibt. "Scheiße" ist das Wort, das seine Situation sehr gut beschreibt. Lemmon, der den Textilfabrikanten Harry Stoner spielt, steckt tief drin. Und eigentlich geht es um mehr. Um Trauer, Wehmut und das Ringen mit einer Welt, mit der man eigentlich nichts mehr zu tun haben möchte.

Direkt mit der ersten Einstellung schafft es Rocky-Regisseur John G. Avildsen, uns einen Menschen zu zeigen in dem es brodelt und gärt. Er erwacht aus einem Alptraum, seine unruhigen Träume führen ihn geradewegs in ein unruhiges Leben. Er dreht sich um, das Gesicht schweißnass, angstverzerrt. Noch einige Sekunden, dann schnarrt der Wecker. Es gibt Menschen die sich beim morgendlichen Aufstehen genauso fühlen wie Lemmon in dieser Szene aussieht.

Avildsen begleitet ihn bei seinen morgendlichen Ritualen. Erst nach einigen Minuten merken wir, dass es auch eine Ehefrau gibt (Patricia Smith). Duschen, Frühstück, Smalltalk.

Wir verbringen einen heißen Frühsommertag im Los Angeles der Siebziger mit diesem Mann, der gerade drauf und dran ist, die Versicherung zu betrügen. Damit seine Firma, seine Arbeiter, und letztlich auch er vor dem Ruin gerettet werden. Und darin ist Harry Stoner nicht unerfahren. Schon im letzten Jahr konnte man sich nur durch kreative Buchführung und Steuerhinterziehung über Wasser halten. Oder, wie er es euphemistisch ausdrückt: „Wir haben eine neue Rechenmethode erfunden.“

Harry Stoners Alltag ist ein Minenfeld. Sein Partner Phil (Jack Gilford) will mit Versicherungsbetrug nichts zu tun haben. Harry schlägt sich mit zickigen Modedesignern und deprimierten Mitarbeitern rum. Organisiert für Geschäftskunden Schäferstündchen mit stadtbekannten Luxusnutten, sonst wird es nichts mit dem überlebenswichtigen Auftrag. Und er wird, am Ende eines langen, Kräfte zehrenden Tages, selbst mit dem Hippiemädchen Myra (Laurie Heineman) im Bett landen. Ein seltener Moment der Ruhe im Auge des Sturms.

Über Harrys Kopf kreist der Pleitegeier, die ständige Angst vor dem Abstieg. Der drohende Konkurs, das teure Haus, die schlechte Wirtschaftslage der späten Nixon-Ära. All das drückt aufs Gemüt. Doch da ist noch mehr.

Lemmon spielt einen Menschen, der am Rande steht, am Ende ist, von Halluzinationen gequält wird. Harry Stoner kämpft ums Überleben und um den Verstand. Lemmon spielt das so gut, dass es ihm den Oscar einbrachte. Er verkörpert einen Mann der zum alten Eisen gehört. Die Gegenwart scheint ihn nicht mehr zu brauchen, und mit dem Herzen ist er sowieso lieber in der Vergangenheit. Immer wieder entgleitet seine Aufmerksamkeit, sinniert er in die Ferne und murmelt gedankenverloren Aufstellungen von alten Baseballteams vor sich hin. Nach dem Sex spielen er und seine Bettbekanntschaft ein Spiel: einfach Namen von berühmten Personen heraushauen, so schnell wie möglich. Harry fallen haufenweise alte Musiker ein. Und wie gern erinnert er sich an seine Zeit als Schlagzeuger einer Jazzband. Und an die Sängerin: „Sie wir mit fast jedem im Bett, aber ich war in sie verliebt.“ Es klingt kein bisschen bitter.

Myra sagt, wenn Tiere spüren dass ihre Zeit zu Ende geht, ziehen sie sich an einen Ort zurück an dem sie sterben können, der sie an gute Zeiten erinnert. So landet Harry am nächsten Tag auf einem Baseballfeld. Die Kinder brauchen natürlich keinen alten Mann zum spielen.

Mit Save the Tiger (Rettet den Tiger, 1973) hat Avildsen das Genre des melancholischen Lebenskrisendramas mitbegründet, das zuvor mit Bob Rafelsons Five Easy Pieces (Ein Mann sucht sich selbst, 1970) so richtig anrollte und heute beliebter denn je zu sein scheint. Man denke nur an Alexander Paynes About Schmidt (2002) und Sideways (2004), oder Peter Hedges' Dan in Real Life (2007). Und wenn man sich auf die Verallgemeinerung einließe, dass europäisches Kino eher personenzentriert erzählt, während amerikanische Filme auf die Handlung setzen, dann ist dieses Genre auf dem US-Markt eher eine Ausnahmeerscheinung.

Dabei erfährt man nicht alles Wissenswerte über Harry Stoners Elend und die Geschichte, die dahinter steckt. Aus einem solchen Stoff hätte man, quantitativ, mehr stricken können. Avildsen belässt bei gut neunzig Minuten. Aber schlimm ist das nicht. Rocky (1976) hat bestimmt mehr Pathos, und Rocky Balboas Niederlage ist im Grunde ein Triumph auf unamerikanische Art und Weise. Die Geschichte von Harry Stoner ist eher ein leiser Seufzer. Und für den Held geht es auch nicht so gut aus. Aber beide Filme erzählen auf ihre Art vom Kampf ums Überleben.

Dabei wirkt dieser Unternehmer der alten Schule in den wenigsten Augenblicken unsympathisch. All sein Tun ist pure Verzweiflung, Strampeln, Hadern. Paddeln im Wasser, das ihm bis zum Hals steht. Und er weiß dass ihm die Zeit durch die Hände rinnt.

Neben der hervorragenden und zu Recht Oscar prämierten Leistung von Jack Lemmon, bestechen die scharfen Dialoge, für die Scriptautor Steve Shagan eine geradlinige Sprache fand, die in jeder Lage den richtigen Ton trifft. Das gilt für die Wortgefechte zwischen Harry und Phil und für die melancholischen Momente, in denen Harry kurz vor der Selbstaufgabe steht oder in einer kurzen Gedankenreise in die Vergangenheit ein bisschen Glück findet.

Ob die Zukunft auch etwas davon für ihn parat hält, ob er seine zweite Chance bekommt, sehen wir nicht mehr. Aber wir hoffen es.

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