Kate
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« Antworten #12 am: 06. Dezember 2011, 02:41:32 » |
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Also bin ich, als langjähriger Bewunderer der Comics, mit durchaus gemischten Gefühlen und einer nicht allzu hohen Erwartung in diesen Film gegangen - ich wusste ja, nachdem ich den Trailer gesehen hatte, dass ich keine werkgetreue Umsetzung des grafischen Universums Hergés erwarten durfte. Also was würden eine amerikanische und eine neuseeländische Regielegende aus diesem so europäischen Stoff machen? Die Antwort liegt nahe: Etwas eigenes. Dieser Film ist aus meiner Sicht eine "Variation zum Thema Tim und Struppi", eine Neuinterpretation, angelegt an etwas, das eigentlich nicht verfilmbar ist. Und damit ist dieser Film konsequenter und eigenständiger, als alle bisherigen Versuche, Tim und Struppi auf die große Leinwand zu bringen: Die Realverfilmungen aus den 60ern konnten filmisch den Vorlagen nicht annähernd das Wasser reichen und die Zeichentrickumsetzungen sind vom Design zwar dicht dran, aber technisch und vor allem im Timing nicht angemessen.
Das Team der Neuverfilmung ging den einzig möglichen Weg und schuf ein neues Tim-und-Struppi-Universum - etwas das übrigens in der Comic-Welt schon seit vielen Jahren praktiziert wird: Neudefinitionen bekannter Akteure in Parallel-Universen und "What-If?"-Szenarios. Das mag man kritisch betrachten und als "Verrat" am ursprünglichen Setting empfinden, doch ich denke, es ist legitim. Die Bewertung der Umsetzung der Charaktere in ein neues Design ist letztlich Geschmacksache, in ihren Funktionen sind sie letztlich getroffen: Tim ist der "Platzhalter" für den Betrachter, Kapitän Haddock das chaotische Moment, Struppi der Held der Kleinen, die Schulzes die Slapstick-Lieferanten. Für Tim und die Schulzes hätte ich mir persönlich ein anderes Design gewünscht - aber wie gesagt, das bleibt vom persönlichen Geschmack bestimmt.
Interessant finde ich die Kollaboration mit Simon Pegg, Nick Frost und Edgar Wright, die zusammen für Titel stehen wie "Shaun of the Dead" und "Hot Fuzz" - ganz famose Produktionen, die nicht nur durch anarchischen Humor bestechen, sondern auch - ganz im Sinne meiner Vorrede - für Neuinterpretationen stehen: "Shaun of the Dead" ist ein gutes Beispiel für eine humorvolle Neubelebung des Zombie-Genres.
Die Handlung ist angelehnt an drei Alben von Hergé; Timing und Tempo sind atemberaubend - manchmal etwas zu viel, aber weitaus besser als die betulichen Versuche aus früherer Zeit - hier zeigt Spielberg, das Indiana Jones und Tim Verwandte sind. Die Choreografie der Szenen bleibt aber im wesentlichen immer nachvollziehbar - im Gegensatz zu hyperaktiven Produktionen wie "Transformers" wo ich einfach innerlich abschalte.
Technisch zeigt sich "Die Abenteuer von Tim und Struppi - Das Geheimnis der Einhorn" auf allerhöchsten Niveau. Was hier an CGI gezeigt wird, stellt alles bisherige deutlich in den Schatten. Hier wurde mit Liebe zum Detail gearbeitet: Texturen, Lichtbrechungen, Wasseranimationen, Staubpartikel in der Luft - das hat man so bisher nicht gesehen. Der 3D-Effekt ist sehr räumlich und selten nur auf Effekt ausgerichtet.
Der Score stammt von niemand geringerem als John Williams - wir kennen ihn alle aus Star Wars, Indiana Jones, Jurassic Park, Schindlers Liste und Harry Potter.
Als lose Vorlage für die Verfilmung dienten den drei Drehbuchautoren Steven Moffat, Edgar Wright und Joe Cornish gleich drei der 24 Comicalben: Während "Das Geheimnis der 'Einhorn'" und "Der Schatz Rackhams des Roten" als Comics eine inhaltlich zusammenhängende Fortsetzung bilden, erzählt "Die Krabbe mit den goldenen Scheren" eine in sich abgeschlossene Geschichte. Im Film nehmen Handlungselemente aus "Das Geheimnis der 'Einhorn'" den ersten Teil ein, während Handlungselemente aus "Die Krabbe mit den goldenen Scheren" als Vorlage für den zweiten Teil diente. Aus "Der Schatz Rackhams des Roten" wurden lediglich Kapitän Haddocks Erinnerungen an seine eigene Ahnengeschichte verwendet. Hinzu kommt, dass die Geschichtenerzähler sich nicht nur an die Comicvorlagen halten wollten, sondern zusätzlich auch noch ein paar eigene Szenen in den Film mit eingebaut haben. Das erfüllt gleich zweierlei Zweck, denn zum einen wird der Film auf diese Weise für alle die mit den Comics vertraut sind aufregender, zum anderen konnte man die Handlung aus den Comics, die größtenteils aus den 1930er und 1940er Jahren stammen, im Film etwas mehr modernisieren. Wie Regisseur Spielberg auf der Premiere verlauten ließ, bestand seine Hauptintention bei der Verfilmung darin, die Comics für den US-amerikanischen Markt attraktiver zu machen. Dass die "Tim und Struppi" Comics bisher in den USA noch gar keine Veröffentlichung erlebten, ist wie ich finde ein interessanter Punkt. Vielleicht könnte es sich dabei um ein Mentalitätsproblem handeln, denn wie mir aufgefallen ist, besteht ein Unterschied zwischen den amerikanischen und europäischen Comichelden. Während die US-Comichelden wie z.B. Superman oder Spiderman meistens äußere Eigenschaften in Form von Superkräften besitzen, die sie gegenüber ihren Feinden körperlich überlegen machen, beziehen die europäischen Comichelden wie z.B. der abenteuerlustige Reporter Tim ihre Kräfte mehr von innen - die Comicfigur des Tim lebt doch von ihrer Neugier und dem Interesse für fremde Kulturen. In Europa gelten Frankreich und vor allem Belgien als Länder mit ausgeprägter Comic-Kultur, so dass man sagen könnte, diese Länder repräsentieren den europäischen Comic. Die jungen Menschen und Comicfans aus den USA können vielleicht nicht so viel mit Comicfiguren anfangen, die rein äußerlich einem Durchschnittstypen ähneln, so dass man ihre wahren Qualitäten wie Neugier und Sympathie für fremde Kulturen nicht auf den ersten Blick erkennt. Bei Superman und Spiderman kommt es darauf an, dass der Held am Ende siegt. Bei Tim und Struppi kommt es mehr auf die Erlebnisse und Erfahrungen an, die der Held auf dem Weg zum Ziel macht.
Bei Hollywoodfilmen werde ich als Zuschauer oft mit Gewalt konfrontiert. Was die "Tim und Struppi" Comics von Hergé für mich aber gerade so liebenswert erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass Gewalt jeglicher Art in den Comics größtenteils abwesend ist. Spannung wird weniger durch sinnlose Schießereien oder sonstige Gewaltexzesse erzeugt, sondern vielmehr durch irrwitzige Verfolgungsjagden oder humorvolle Verwechslungen, die meistens aus den Charaktereigenschaften der Figuren heraus entstehen. So war ich positiv überrascht darüber, dass Steven Spielberg in einem Film, der sich hauptsächlich an das Kinopublikum in den USA richtet, so weit irgend möglich auf die Darstellung von Gewalt verzichtet hat. Ich war zumindest mit der Erwartung ins Kino gegangen, mehr davon zu sehen als in diesem Film gezeigt wird. Trotzdem konnte ich mit dieser Verfilmung nicht wirklich warm werden. Das liegt vielleicht am sogenannten Performance-Capture-Verfahren, in dem der Film gedreht wurde: Die Schauspieler wurden per Computeranimation zu Zeichentrickfiguren gewandelt, so dass ihre originalen Körperbewegungen bestehen blieben und die Zeichentrickfiguren auf diese Weise letztendlich lebensechter und menschlicher wirken. Für Spielberg war es das erste Mal, dass er in diesem Verfahren einen Film gedreht hat. Ich stehe dieser Art Filme zu machen eher kritisch und mit gemischten Gefühlen gegenüber, weil ich das Geschick welches darin besteht mit der bloßen Hand Zeichnungen zu erschaffen viel mehr wertschätze als jede Zeichnung die am Computer entsteht. Der Tim-und-Struppi-Erfinder und -Zeichner Georges Remi stammte aus einer Zeit, in der man den Computer noch nicht als zeichnerisches Hilfsmittel nutzen konnte. Seine Comiczeichnungen aus der Originalzeit sind für meinen Geschmack somit ehrlicher und atmosphärisch stimmungsvoller als das was Spielbergs Film hier zeigt. Ob Hergé diesen Film wirklich sehr gemocht hätte, wie Spielberg auf der europäischen Kinopremiere in Brüssel selbstbewusst verlauten ließ, steht wohl in den Sternen. Ganz am Anfang des Films wird ein junger Mann gezeigt, der sich auf einem Flohmarkt von einem Straßenmaler porträtieren lässt, der ein wenig aussieht wie Hergé. Als Resultat wird den Zuschauern ein Porträt gezeigt, das den echten Tim zeigt wie Hergé ihn in seinen Comics gezeichnet hat. Erst danach bekommt man zum ersten Mal Tims Antlitz im Performance-Capture-Verfahren zu sehen und es ist etwas schwer sich daran zu gewöhnen.
Für Spielbergs Verfilmung wurde ein Vorspann entwickelt, der optisch etwas an den Vorspann aus "Der rosarote Panther" von Blake Edwards erinnert. Ich erhielt hin und wieder den Eindruck, es mit einer umgewandelten Comicverfilmung von Indiana Jones zu tun zu haben, z.B. in der Szene in der Tim während der Verfolgungsjagd durch die Wüstenstadt den Lenker seines Motorrads dazu verwendet um über einem Abgrund an einer Wäscheleine herabzugleiten. Tim und Kapitän Haddock waren für Verhältnisse, die eine 3-D-Optik mit sich bringt relativ gut getroffen, während ich die beiden trotteligen Detektive Schultze und Schulze als etwas überproportioniert empfand. Im Comic "Der Schatz Rackhams des Roten" wird außerdem der zerstreute Professor Bienlein als neuer Charakter eingeführt, der in diesem Film aber leider außen vor gelassen wurde. Dafür findet die Opernsängerin Bianca Castafiore, genannt "die mailändische Nachtigall", Beachtung und hat einen bizarren Auftritt in der Wüstenstadt. Als Fazit kann gelten, dass es dem Film gut getan hätte wenn man den einzelnen Figuren, internationalen Schauplätzen und humorvollen Dialogen noch mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, anstatt zu viel Action zu zeigen, aber auch so bin ich trotzdem sehr zufrieden mit dem Endergebnis.
Mein persönliches Fazit: Dieser Film ist sehenswert. Hier wird eine bekannte Welt neu interpretiert, mit viel Liebe zum Detail und zum Sujet. Er ist eigenständig und äusserst unterhaltsam. Und wer die eigentliche Tim-und-Struppi-Welt liebt - so wie ich - dem bleiben die Comics des Altmeisters Hergé... sie bleiben unerreicht - auch von den Herren Spielberg und Jackson.
Ich vergebe 4 Sterne!
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